Dr. Christel Hasselmann, 26.11.23

Immer wieder wird von Israelis die fehlende gemeinsame Identität beklagt. Die Gegensätze untereinander seien zu krass. Das, was sie zusammenhält, ist die Bedrohung durch die Palästinenser u.a. – das gemeinsame Feindbild. Fällt das Feindbild durch Friedensschluss weg, wird das für die Zukunft existentielle Fragen aufwerfen. Z. B.: Was ist eigentlich ein jüdischer Staat?

Er ist Zufluchtsort für alle in der Diaspora lebenden Verfolgten, die von Antisemiten als Juden definiert werden oder sich selbst als solche bezeichnen. Dieser Zufluchtsort muss bleiben.
Aber damit ist das Problem der Identitätsfindung nicht behoben.

Das erste Mal im 13. Jahrhundert v. Chr. bei der Befreiung der Hebräer aus der Sklaverei in Ägypten, als Hebräer nebst Mischvolk und Fremde nach dem Auszug durch den Bund mit Gott und die Übergabe der Tora ein Volk wurden. (Dt 29, 9-14) Deutlich ist auch die Einbeziehung von Fremden, die mit im Lager lebten, als ebenbürtige Partner im Bundesschluss mit Gott. Alle Anwesenden, unabhängig von der Abstammung, wurden als „Volk Gottes“ eingesetzt.

Das ist die offizielle Gründung des Jüdischen Volkes. In der Tora stehen Weisungen, wie sich der Mensch verhalten soll, damit es ihm gut geht. Es geht um Freiheit, Gerechtigkeit, Mitmenschlichkeit, Bewahrung der Schöpfung, Gesundheit, Weltvernunft u.v.m. (Viele dieser Weisungen finden sich wieder in unserem Grundgesetz und in den Menschenrechten.) Die Achtung und die Verpflichtung auf diese Weisungen schufen die Identität des Volkes Israel.

Die Christen haben die Tora in den Fünf Büchern Mose der Bibel übernommen und auch der Prophet Mohammed bestätigt im Koran die Tora. (Koran 3. Sure, Vers 51) Was die einzelnen Religionen daraus gemacht haben, ist eine andere Geschichte.

Das zweite Mal war es der Statthalter Nehemia im 6. Jahrhundert v. Chr., der den aus dem Babylonischen Exil Zurückkehrenden, ihren gemischten Nachkommen und den im Land Israel Verbliebenen eine gemeinsame Identität durch die freiwillige Erneuerung des Bundes und Besinnung auf die Existenz als Gottesvolk vorschlug und die auch angenommen wurde. (Neh 10,30)

Und warum nicht jetzt – das dritte Mal? Ist es nicht längst überfällig, sich wieder auf die Wurzel zu besinnen? Hätte diese Identitätsbildung auf Grundlage der mosaischen Weisungen nicht bereits mit der Staatsgründung Israels 1948 erfolgen müssen?

Die Geschichte der Juden ist wie die Geschichte der Menschheit zugleich die Geschichte einer Jahrtausende andauernde Vermischung der Menschen. Die Juden waren von Anfang an ein Mischvolk. Auch wenn es Zeiten gab, wo Juden nur unter sich lebten und Mischehen verboten waren, so heirateten sie doch in anderen Zeiten Partner*innen anderer Kulturen und Religionen. Manche verließen das Judentum, andere traten zum Judentum über. Die Hebräische Bibel erzählt es uns und genauso die zahlreichen späteren Geschichtsschreiber. Im Judentum gibt es bis heute ein ständiges Kommen und Gehen. Wer weiß schon, welche Vorfahren man vor Hunderten, ja vor Tausenden von Jahren hatte? Niemand kann das wissen. Nach Tausenden von Jahren können heute auch Nichtjuden jüdischer Abstammung sein, auch ohne es zu wissen. Wer kennt schon alle seine Vorfahren?

Gemäß der Aussage des Propheten Jesaja schließt der Bund nicht nur Juden mit ein, sondern alle Menschen, alle Völker, die den Vertrag halten wollen:
Der Fremde, der sich dem Herrn angeschlossen hat, soll nicht sagen: „Sicher wird der Herr mich ausschließen aus seinem Volk.“ Aber Gott sagt: „Ich gebe ihnen einen Namen, der mehr wert ist als Söhne und Töchter.“ „Mein Haus wird ein Haus des Gebets für alle Völker genannt.“ (Jesaja 56, 3-7)